Nun bin ich bald drei Monate zurück in Deutschland nach meinen drei Jahren in Armenien. “Hast Du Dich denn schon wieder eingelebt? Vermisst Du Armenien?” bin ich in den letzten Wochen und Monaten oft gefragt worden. Das finde ich aber eigentlich nicht die wirklich interessanten Fragen. Ich wohne wieder in meiner schönen Wohnung in Bonn, in Armenien habe ich drei wunderbare, einmalige Jahre erlebt und bin gleichzeitig glücklich, wieder zu Hause zu sein.
Aber die eigentliche Frage ist doch: Was bleibt davon übrig außer Fotos und Reise-Erinnerungen? Schon in den letzten Wochen vor der Rückreise habe ich daher eine kleine Liste in die Memo-Funktion meines Handys getippt, die Dinge, die ich in Armenien gelernt habe:
Mein armenischer Alltag
Wer mich kennt, weiß, dass mit mir vor dem ersten Kaffee morgens sehr wenig anzufangen ist. Manche wundern sich, wie unleidlich ich werden kann, wenn dieser Kaffee ausfällt. Daher war es eines der wichtigsten Dinge für mich, die ich lernen musste, auch ohne bequeme Pad-Maschine in Armenien so schnell wie möglich zum Wachmacher zu kommen. Zunächst gab es daher bei mir morgens löslichen Kaffee - wie bei den meisten Armeniern auch, wenn kein echter armenischer Kaffee gebraut wird. Nach einigen Wochen fand ich dies geschmacklich aber zu fade und habe mir eine French Press zugelegt. Die Bedienung ist an sich ja viel komplizierter als bei Maschinen, eigentlich nichts für unausgeschlafenes Hantieren am frühen Morgen, aber inzwischen kann ich es problemlos: Die French Press im Halbschlaf bedienen! Ich finde, das ist eine wirklich wichtige Sache, der nächste Urlaub in irgendeinem Ferienhaus mit rudimentärer Ausstattung kommt bestimmt.
Ebenfalls wichtig im Alltag war für mich, dass ich recht bald - schon nach dem zweiten oder dritten Stromausfall - meine Kerzen nebst Streichhölzern zielsicher im Dunkeln in meiner Küche finden und anzünden konnte.
Weniger kritisch, aber auch praktisch sind in Armenien die allgegenwärtigen Boxen mit Papiertüchern auf dem Tisch. In meiner Wohnung stand natürlich beim Einzug je eine auf der Küchentheke und auf dem Wohnzimmertisch, zudem im Büro, und überhaupt in Restaurants auf jedem Tisch. Dies ist an sich ein Produkt, das ich früher immer überflüssig fand, doch bald hatte ich in Yerevan auch weiterhin zwei Boxen in meiner Wohnung plus eine dritte auf Vorrat. Und was soll ich sagen, kaum war ich wieder in Bonn, musste ich mir zwei solcher Boxen kaufen. Die Auswahl an Papiertücherboxen ist übrigens in jedem durchschnittlichen armenischen Supermarkt sowohl in Sachen Design als auch hinsichtlich der Marken viel größer als in Deutschland.
Zu guter Letzt muss ich beim Thema Alltag natürlich über den deutschen Klassiker Mülltrennung schreiben. Das fing damit an, dass ich meiner Vermieterin in Yerevan beim Einzug die Frage stellte, in welchen Mülleimer ich meinen Müll werfen muss. Sie verstand meine Frage erst gar nicht. Ich erklärte ihr, dass in Deutschland jeder einen eigenen Mülleimer hat oder zumindest jedes Haus. Sie war sehr verwundert und antwortete mir, ich könne natürlich jeden Müllcontainer benutzen! Das habe ich dann auch gemacht, immer mal wieder einen anderen, pure Freiheit. Was ich aber nicht aufgeben konnte, war das Trennen von Glas, Plastik und Restmüll. Samstags lief ich dann mit drei verschiedenen Tüten mit säuberlich getrenntem Müll zum Müllcontainer meiner Wahl und schleuderte mit innerlichem Widerwillen alle drei Beutel in den gleichen Container. Wie tief meine deutsche Sozialisation also reicht, wurde mir immer wieder vor dem Müllcontainer klar, auch die Mülltrennung habe ich die drei Jahre in Yerevan natürlich beibehalten.
Irgendwie Armenisch …
Bis auf ein wenig “Show-Armenisch”, wie es eine Freundin gerne nannte, habe ich sehr wenig von der Sprache gelernt, Lesen noch weniger. Dabei habe ich aber trotzdem zwei ganz andere wichtige Dinge gelernt. Denn je länger ich in Armenien war, umso mehr konnte ich oftmals irgendwie dem Sinn armenischer Unterhaltungen folgen. Einzelne, oft internationale, Wörter als Anker, ein bisschen Phantasie und Interpretation der Situation und manchmal auch ein ganz unbewusstes Gefühl der Bedeutung kamen dabei zusammen.
Und ich habe gelernt, wie schön es sein kann, wenn man nichts versteht. Manchmal streiten sich beispielsweise Leute - auch, wenn dies in Armenien in der Öffentlichkeit recht selten vorkommt. Doch wenn man dies dann nicht versteht, hat man seine Ruhe und kann guter Laune bleiben. Umgekehrt fiel mir in Deutschland auf, dass ich manches, was ich unfreiwillig irgendwo hörte, lieber nicht verstanden hätte. Leider ist weghören schwerer als wegsehen.
Gute armenische Sitten
Die Interpretation von gutem Benehmen kann kulturspezifisch ja sehr unterschiedlich sein. So habe ich bald gelernt, dass Anschnallen im Taxi in Armenien unhöflich ist, denn wenn man nach dem Gurt fragt (der oft sowieso nicht funktioniert), dann zeigt dies, dass man dem Fahrer nicht vertraut. Diesen Sitten habe ich mich rasch und gut angepasst, zurück war leider schwieriger. Es kam oft vor, dass mich meine Eltern in Stuttgart vom Flughafen abholten und ich nach einer Stunde Fahrt erst vor der Haustür feststellte, dass ich mal wieder “armenisch” mitgefahren war.
Erst nach meinen drei Jahren in Armenien fiel mir auf, was ich dort noch an guten Sitten gelernt habe: Mich etwa bei besonderen Anlässen ordentlich anzuziehen, incl. Schuhe. Vor vier Wochen war ich in Bonn mit meiner Freundin sonntags in einem neuen, schicken Varieté-Theater. Der Eintritt war nicht billig, das Ambiente auch gepflegt und elegant, die Show spektakulär, noch dazu zum Thema Mode. Doch die Gäste um mich herum, ich war entsetzt! Viele kamen quasi in Standkleidung und Sandalen oder Flip-Flops ins Theater. Die Alternative bestand meist aus Jeans, Druck-T-Shirt und Turnschuhen. Ich trug ein Seidenkleid, dazu Schuhe mit Absatz und kam mir irgendwie deplatziert vor. Es ist mir völlig unverständlich, wie man zu so einem Anlass nicht irgendetwas Schickeres aus dem Kleiderschrank ziehen kann als nur reine Freizeit-Klamotten. So sehr ich mich in all den Jahren über manche “aufgebrezelten” Armenierinnen gewundert habe, entweder hat es doch auf mich abgefärbt oder Mode ist in der Zwischenzeit in Deutschland aus der Mode gekommen.
Beim Essen
Klar, zum Thema Essen habe ich in Armenien besonders viel gelernt. So z.B., dass Mikado auch ein Kuchen ist oder dass man Schokokuchen ohne weitere Hinweise oft heiß und mit Vanilleeis serviert bekommt.
Dafür kommt Salat meist ohne Brot auf den Tisch, ich habe daher immer versucht, mich daran zu erinnern, Brot mitzubestellen. Dies führte manchmal dazu, dass ich einen riesigen, üppig gefüllten Korb mit mehreren Brotsorten zu meinem Mittagsimbiss dazu bekam.
Überhaupt ist es mit den zusätzlichen Hinweisen zur Bestellung manchmal so eine Sache. Einmal habe ich mein Lieblingsgericht Zhingyalov Hats (Fladenbrot mit Kräuterfüllung) extra ohne Butter bestellt. Sie kamen dann doch recht fettig an, die Kellnerin erklärte mir dazu, sie hätten extra Öl statt Butter genommen ...
Zudem sollte man beim Restaurant-Besuch in Armenien wissen, dass Bestellungen praktisch nie zusammen ankommen, das ist Armeniern nämlich total unwichtig. Es wird ja meist sowieso jedes Gericht am Tisch geteilt, daher fängt man gemeinsam an zu essen, sobald die ersten Speisen eintreffen. Auch diese wichtige Lektion habe ich oft an meine Gäste weitergegeben.
Als Fischliebhaberin musste ich zudem in Armenien notgedrungen lernen, wie man halbwegs elegant und grätenfrei ganze Fische isst. Denn Fisch (meist Forelle) wird in Armenien entweder am Stück serviert oder in Teile zerhackt, aber sehr selten filetiert.
Zu guter Letzt habe ich gelernt, dass ich schnell und rücksichtslos sein muss, wenn ich Armenier zum Essen einladen will. Dies nett ankündigen und anschließend nach der Rechnung fragen ist vollkommen aussichtslos, das wird jeder - und jede ebenso - voller Entrüstung rundheraus ablehnen. Stattdessen besteht meine Taktik darin, genau den Kellner zu beobachten, sofort das Mäppchen mit der Quittung zu schnappen, blitzschnell Geld hineinzulegen und anschließend die Ohren lächelnd auf Durchzug zu stellen. Und man sollte sich darüber bewusst sein, dass man damit vermutlich sein Gegenüber trotzdem unglücklich gemacht hat. Der Trick funktioniert daher oft nur einmal, denn beim nächsten Mal geht der Armenier direkt zum Kellner und bezahlt außer Reichweite.
Rund um die Getränke
Auch beim Trinken gab es viel für mich zu lernen, z.B. dass Kompote etwas zu trinken ist (eine Art Fruchtsirup, sehr süß und mit ganzen Fruchtstücken) und dass man Thymian auch trinken kann. Thymiantee ist in Armenien eine beliebte Alternative zum Kaffee nach dem Essen. Und wenn man einen armenischen Kaffee möchte, dann muss man einen “oriental coffee” bestellen, damit man auch das Richtige bekommt.
Auch in Sachen Genuss von alkoholischen Getränken habe ich sehr viel dazu gelernt. Zuerst wollte ich darüber gar nicht schreiben, aber eine Freundin meinte dazu zu mir “Nein, Du musst!” Sie argumentierte, dass die Leute wissen sollten, dass Trinkfestigkeit bei längeren Aufenthalten “im Osten” durchaus eine wichtige Sache ist - oder man stellt sich von vorne herein darauf ein, dass man nicht so ganz ins Bild der Einheimischen passt.
Auch in dieser Hinsicht habe ich mich den lokalen Sitten in den letzten Jahren entsprechend angepasst, ich vertrage nun mehr Alkohol als früher. So habe ich z.B. gelernt, bei offiziellen Anlässen schon morgens um 11 das erste Gläschen Rotwein zu trinken oder auch mittags Torte mit Brandy zu mir zu nehmen.
Besonders wichtig war bei aller Trinkfestigkeit aber auch der Trick, immer ein Pfütze Wein im Glas zu lassen, den ich mir rasch von den Armenierinnen abgeschaut habe. Denn wenn das Glas leer ist, wird gleich nachgeschenkt, spätestens beim nächsten Trinkspruch, auf den natürlich alle mit einem irgendwie noch gefüllten Glas anstoßen müssen. Und Trinksprüche können je nach Tischgesellschaft im Minutentakt kommen.
Reise-Lektionen
Zu guter Letzt kann ich nun nach der jahrelangen Pendelei zwischen Armenien und Deutschland zwei Dinge wirklich gut. Das erste ist Powershoppen. Ab und zu waren meine Eltern oder Freunde dabei, wenn ich auf Heimatbesuch in Windeseile durch einen Laden - egal ob groß oder klein - wirbelte und innerhalb kürzester Zeit mit einem Berg an Kleidern, Schuhen, Kosmetikartikeln und/oder haltbaren Lebensmitteln wieder herauskam. Sie wunderten sich immer und hatten wohl den Eindruck, ich würde ziellos alles mitnehmen, was ich in die Finger bekam. Aber weit gefehlt, dem vorausgegangen waren viele Wochen, in denen ich etwas vermisste oder etwas kaputt Gegangenem oder Aufgebrauchtem nachtrauerte.
Direkt damit verbunden war die zweite Reise-Lektion: Koffergewicht schätzen! Dafür gibt es zwar Kofferwaagen, bei einer der o.g. Powershopping-Aktionen im Outlet-Center habe ich auch mal eine gekauft. Aber die funktionierte nicht, wie ich leider rasch feststellen musste. Stattdessen kann ich nun einen Koffer ein paar Sekunden lang anheben und anschließend auf das Kilo genau abschätzen, wie schwer er ist, besonders um die 23 KG Grenze herum. Denn die ganzen Powershopping-Schätze mussten ja auch mitgenommen werden.
Um also wieder auf die Frage vom Anfang zurück zu kommen, was bleibt zusätzlich zu den vielen schönen Reise-Erinnerungen? Nun, ich denke die Erkenntnis, dass ich mich an vieles gewöhnen und anpassen kann, manches davon auch gerne für mich mitnehme - so wie z.B. das Duschen mit Seife, das ich 2012 aus Mexiko mitgebracht habe. Vertrauen in meine Anpassungsfähigkeit, Gelassenheit und Flexibilität, daneben umso mehr Dankbarkeit für alles das, was ich in Armenien erleben und lernen durfte.
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TANJA (Mittwoch, 19 September 2018 21:32)
Wunderbar�... Aus deiner Lebensart hat sich in unserer Familie dein häufig ausgesprochenes "Mercishad" eingeschmuggelt �
Britt (Mittwoch, 25 Mai 2022 17:51)
Liebe Silvia, Ich kann nur XXL Mercishad sagen :) - Ich bin vor 2 Wochen für 2 1/2 Wochen mit meinem Mann und einem Lada Niva 4x4 durch Armenien gereist & habe dein Buch verschlungen (nachdem es mir im Berlin Art Hotel in Gymri glücklicherweise in die Hände gefallen ist). Wir haben soooo viel erlebt, sooo viele Menschen kennengelernt in dieser kurzen Zeit und dein Buch hat sooo vieles "bestätigt" und ins rechte und lustige Licht gerückt. Wir lieben es, einfach drauflos zu reisen und uns überraschen zu lassen!! Und ständig gab es kleine und große, v.a. positive Überraschungen und Erlebnisse, die man nicht mehr missen möchte! Ein wunderbares Land mit wunderbaren lieben und hilfsbereiten Menschen, tollen Landschaften, viel Kultur & Geschichte sowie dem leckersten Essen der Welt!! Ich muss immer noch und hoffentlich immer schmunzeln, wenn ich an diese Reise zurückdenke! DANKE, dass Du dieses Buch geschrieben hast und deine Erlebnisse geteilt! Ich habe es schon Corona-like in meinem Freundeskreis und darüber hinaus supergespreaded und hoffe, dass viele weitere die Gelegenheit nutzen, dieses wunderbare Fleckchen Erde kennen- und schätzen zu lernen.