Oder: Heimreise Teil Zwei
Eine Woche ist bereits vergangen, seit wir Yerevan verlassen haben und mit dem Auto ungefähr 2.000 Kilometer quer durch die Türkei getuckert sind. Für den zweiten Teil der Reise haben wir uns überlegt, mitten durch den Balkan zu fahren, und zwar die landschaftlich schönsten und auch noch ursprünglichsten Strecken durch die Berge – also weder Autobahn an der kroatischen Mittelmeer-Küste entlang noch durch Serbien hindurch brausen. Beides wäre schneller gegangen, aber schöner und auch spannender ist der kurvige Weg dazwischen. Oftmals durchqueren wir drei Länder am Tag – Nationen, die ich teilweise vor der Reise auf der Landkarte nur grob hätte verorten können und bei denen ich mir Abends im Hotel die wichtigsten Fakten noch mal auf Wikipedia anlesen muss, um wenigstens einen groben Überblick zu behalten. Ich muss zugeben, dass ich selten zuvor so unvorbereitet und ohne wirklich konkrete Vorstellungen in fremde Länder gereist bin, mich einfach nur auf die Spürnase für schöne Orte und gute Erfahrungen von Wolfgang, meinem Freund und Reisegefährten, verlassend.
Doch zunächst freuen wir uns, nach einer Woche Fahrt von Armenien über Georgien und die Türkei die Grenze zu Griechenland erreicht zu haben und sind gespannt, wie es sich anfühlt, auf diesem Weg die Außengrenzen der EU zu passieren. Nun, unsere Pässe werden noch inspiziert, aber an der Zollkontrolle bewegt sich der Beamte nicht aus seinem Häuschen und nimmt auch gar nicht mehr unsere Dokumente entgegen. Stattdessen schaut er erst in seinen Computer, anschließend in den Wagen und ruft dann: „Wolfgang!?“ „Yes, and Silvia!“ antwortet dieser wie aus der Pistole geschossen. Ebenso zackig befiehlt der Zöllner uns nur noch „Go!“ und lässt uns ohne jegliche weitere Inspektion passieren. Drogen, Waffen, illegale Einreisende, alles hätten wir statt dreckiger Wäsche in unserem Kofferraum mitführen können, aber unser nicht besonders sauberes Auto und wir beide machen wohl einen allzu harmlosen Eindruck.
Die griechischen Autobahnen in Europa sind dann zwar fast ebenso leer wie die anatolischen Schnellstraßen in Asien, aber es fehlt ihnen ein entscheidendes Element: Raststätten! So müssen wir notgedrungen irgendwann die Autobahn verlassen und den nächsten Ort ansteuern, um eine Kaffeepause einlegen zu können. Dies tun wir in der Nähe der Mittelmeerküste und unser Plan geht auf: Ein Cappuccino am Strand zwischen planschenden Badegästen und bei lautstarker Loungemusik, bezahlt in Euro und nur leicht überteuert, gibt genügend Energie für den weiteren Weg.
Wieder kennt Wolfgang im Nordwesten Griechenlands aus früheren Reisen ein nettes Hotel mit einem lauschigen Garten, sehr guter Küche und recht nahe an der albanischen Grenze, wohin die Fahrt als Nächstes gehen soll. Wir erholen uns dort mit feinem griechischem Wein und leckerem Essen von den bisherigen Reisestrapazen und fühlen uns – zurück in der EU – irgendwie schon wieder ein bisschen heimelig.
Am nächsten Morgen versuchen wir den Weg zur albanischen Grenze zu finden, denn wir wollen nach Pogradec am Ohridsee – ein Ort, der Wolfgang auf seinen bisherigen Reisen sehr beeindruckt hat. Mal wieder entscheidet das Navi die Route anders als wir und mangels Beschilderung stehen wir zwar irgendwann an einer Grenze, aber als Wolfgang den griechischen Beamten fragt „Albania?“, antwortet dieser „No, Mazedonia.“ Aha. Nun, laut Karte geht es auch via Mazedonien irgendwann mal nach Progradec. Denn der Ohridsee ist recht groß und die Grenze zwischen Mazedonien und Albanien verläuft mitten durch den See. Also vertrauen wir notgedrungen dem Navi und fahren weiter. Unterwegs frage ich Wolfgang: „Was ist denn die Währung von Mazedonien?“ „Weiß ich nicht.“ „Und die Hauptstadt?“ „Keine Ahnung …“ „Was sprechen die hier?“ „Weiß ich auch nicht, mazedonisch? Gibt es das?“ Dermaßen vorbereitet erreichen wir wenig später Ohrid am gleichnamigen See und beschließen, ein Kaffeepäuschen einzulegen, vorausgesetzt, wir bekommen auch für Euro einen Kaffee.
Es stellt sich rasch heraus, dass Ohrid auf Touristen bestens eingestellt ist, Scharen von britischen Teenagern, polnischen Rentnern und vielen weiteren Reisenden aus dem Rest Europas schwirren um uns herum und kaum einer hat die lokale Währung (der mazedonische Denar, Kurs 1 zu 61,5) dabei, selbst der Parkplatzwächter akzeptiert daher unsere Euro-Münzen.
Der wunderschön zwischen Bergen gelegene See erinnert mich an mondäne Gegenden in Oberitalien, die Uferpromenade ist sehr schick, der Kaffee entspricht fast italienischen Standards, Ausflugsboote tuckern permanent an uns vorüber, aber irgendwie wird es uns hier bald zu trubelig. Wir fahren daher weiter zur albanischen Seite des Sees.
Nach der Türkei, Griechenland und auch Mazedonien ist der Unterschied an wirtschaftlicher Aktivität und Wohlstand in Albanien deutlich sichtbar. Gleichzeitig gefällt uns die albanische Seite des Sees landschaftlich noch besser. Und die Uferstraße – incl. Radweg – ist zwar wenig befahren, dafür aber ganz neu gebaut, ein echtes, wenig bekanntes Urlaubsparadies.
Mit Hilfe von Tripadvisor finden wir ein sehr nettes, kleines, gleichzeitig topmodernes Familienhotel direkt am See. Spontan bekommen wird dort zwei wunderschöne Zimmer mit Seeblick und Balkon. Lange bewundere ich diesen Ausblick. Das Wetter ist gerade nicht allzu gut, eher wechselhaft. Teilweise hängen die Regenschwaden zwischen Bergen und Wasser. Zwischendurch bricht wieder die Sonne an einigen Stellen durch die Wolken, im Minutentakt wandelt sich das Bild des Sees. Vögel ziehen über die Wasserfläche, kleine Fischerboote fahren vorbei. Ich kann mich an dem Anblick kaum satt sehen.
Nachmittags fahren wir nach Pogradec und wandern im Regen an der Uferpromenade entlang. Wir vermuten, dass es nicht nur am Wetter liegt, dass wir hier fast die einzigen Touristen sind. Stellenweise verströmt der Ort noch (post-)kommunistischen Charme, der See, die Berge und die Natur um uns herum bleiben aber gleichermaßen eindrucksvoll.
Abends essen wir im Hotel, Wolfgang erzählt dazu, dass es in dem See endemische Fischarten gibt. Denn der Ohridsee gehört geologisch betrachtet zu den ältesten Gewässern der Welt, mindestens 2,6 Millionen Jahre alt. Um uns diesem besonderen naturwissenschaftlichen Phänomen ganz unmittelbar anzunähern, bestellen wir daher Fisch aus dem See. Der Kellner und Sohn des Hauses fragt uns, wie wir den Fisch gerne hätten, gegrillt oder traditionell. Ich antworte spontan gegrillt, Wolfgang aber fragt, was denn traditionell sei. Nun, im Ofen geschmort mit Zwiebeln, Knoblauch und Hauswein. Hmmm … Spontan entscheiden wir uns für zwei Portionen (von der Dame des Hauses) traditionell zubereiteten Ohridseefisch, dazu Kartoffeln, Salat und Knoblauchbrot. Auch hier wird uns abschließend noch ein Obstteller auf den Tisch gestellt. Bald sind wir uns einig, dass dies ganz eindeutig die beste Mahlzeit der gesamten Reise war (und übrigens auch bleiben wird).
Nach dem Essen plaudern wir am Seeufer noch mit einer Gruppe von Motorradfahrern aus Österreich, die über Italien und Griechenland nach Albanien gekurvt sind. Abgesehen von den genannten Wetterverhältnissen ist dies eine ebenso schöne Reise-Idee, entsprechend zufrieden waren sie mit ihrer bisherigen Fahrt.
Angesichts von Nieselregen und unter 20 Grad lassen wir am nächsten Morgen den möglichen Badetag am See schweren Herzens ausfallen und fahren gleich weiter. Wieder stehen uns drei Länder und zwei Grenzübergänge bevor.
Landeskundlich fast ebenso unvorbereitet erreichen wir Montenegro, hier informieren uns zumindest touristische Hinweisschilder, dass wir uns in einem Weinbauland befinden und der Name des Landes lässt schon vermuten, dass es irgendwann bergig wird. Erneut durchqueren wir grandiose Landschaften und erreichen schließlich den Anfang des über 30 KM langen Piva-Stausees. Die Straße nach Bosnien-Herzegowina führt lange direkt am See entlang und nach jeder Kurve eröffnen sich uns neue atemberaubende Ausblicke auf den stahlblauen See in der dramatisch engen und steilen Schlucht. An mehreren Stellen halten wir an, um dieses Panorama zu genießen.
Wenige Kilometer hinter dem Staudamm des Sees erreichen wir am späten Nachmittag die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. Grenzübergänge haben wir ja auf dieser Reise schon einige erlebt und manche stehen uns noch bevor. Der abenteuerlichste von allen ist jedoch genau dieser, wo die Flüsse Piva und Tapa zusammentreffen. Südlich des Tapa liegt noch Montenegro, nördlich dann Bosnien-Herzegowina. Über die Tapa führt lediglich eine einspurige Holzbrücke, gleichzeitig wird die Strecke nicht nur von Touristen frequentiert, unmittelbar vor uns rollt ein Tanklastzug im Schritt-Tempo über die Brücke. Mit diesem Gefährt wollen wir uns die etwas fragwürdige Brücke auf keinen Fall teilen, außerdem kommt ab und zu auch noch Gegenverkehr herüber. Manche Reisende überblicken diese enge Lage jedoch nicht vollständig, was das Chaos – und die entsprechende Wartezeit – noch vergrößert.
Unmittelbar nach der Grenze geht die Straße dann in eine Schotterpiste über. Diese verwandelt sich aufgrund des einsetzenden Regens schnell in ein Schlammbad. Eigentlich hatten wir gehofft, an diesem Tag noch Sarajewo zu erreichen. Doch angesichts der Straßenverhältnisse ist das aussichtslos, ich werfe daher wieder Tripadvisor an, um die nächste Unterkunft zu finden, die nicht nur aus Hüttchen am Fluss für River Rafting Touristen besteht. Schließlich landen wir im Motel Bavaria, die Wirtsleute sprechen angesichts dieses Namens erwartungsgemäß perfekt Deutsch und Fische aus dem Fluss zum Abendessen haben sie auch zu bieten. Es hätte also schlimmer kommen können. Zimmer und Abendessen bezahlen wir dann zwar wieder in Euro, aber umgerechnet aus der – D-Mark, man glaubt es kaum! Die lokale Währung in Bosnien-Herzegowina ist nämlich die Konvertible Mark, lerne ich, die 1:1 an die D-Mark gekoppelt war, nun entsprechend an den Euro.
Wieder erwartet uns am nächsten Tag eine Drei-Länder-Etappe: Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien. Die meiste Zeit davon kurven wir – aufgrund der Abwesenheit von Autobahnen – durch Bosnien-Herzegowina. Das Land ist geprägt von seinen unterschiedlichen Volksgruppen, die zwar teilweise in einem Ort zusammenleben, sich aber auch deutlich abgrenzen und weniger harmonisch zusammen-, sondern eher nebeneinander her leben – soweit wir uns in der kurzen Zeit überhaupt einen Eindruck davon verschaffen können.
Ein gutes Stück vor der kroatischen Grenze irgendwo an der Landstraße stärken wir uns in einem Café mit Cappuccino – der so gut ist, dass wir spontan einen zweiten bestellen – und unterhalten uns mit dem perfekt Deutsch sprechenden Wirt. Er weist uns darauf hin, dass wir bis zur Grenze viele Häuser-Ruinen sehen werden. Häuser, in denen früher Kroaten gewohnt haben und die während des Bosnienkrieges ihre Heimat „verlassen“ haben. Natürlich hat er recht, im Minutentakt erblicken wir anschließend entlang der Straße solche Relikte, bisweilen noch mit Einschusslöchern in den Fassaden. Relikte eines Krieges mitten in Europa, der erst wenige Jahrzehnte vorbei ist. Die Häuser selbst sind nach dem Krieg meist vollständig entkernt worden, Fenstern, Türen, Dächer, alles fehlt. Daneben wurden neue Häuser gebaut. Wie viel Frieden für die Menschen in Europa wert sein kann, wird uns hier drastisch vor Augen geführt.
In entsprechend melancholischer Stimmung erreichen wir schließlich Kroatien und die EU und brausen weiter bis nach Ljubljana in Slowenien. Der Rest der Reise verläuft völlig unaufregend auf guten Straßen bis nach Hause ins Schwabenland, wie wir es auch erwartet hatten (incl. Staus natürlich).
Was bleibt, ist das Gefühl, dass sich in meinen drei Jahren im Kaukasus kontinuierlich aufgebaut hatte und sich auf dem Balkan, gerade in Bosnien-Herzegowina, noch einmal deutlich gezeigt hat: Was für ein Paradies des Friedens und des Wohlstands wir in Europa, und damit meine ich insbesondere die Europäische Union, geschaffen haben, wissen wir oftmals viel zu wenig zu schätzen. Ebenso wenig ist es eine Selbstverständlichkeit, noch nicht einmal in Europa, dass Menschen so privilegiert zusammenleben können – und dies auch wollen.
Ebenso bleibt mir viel Inspiration für neue Reiseziele, von Nord-Griechenland über Albanien bis nach Montenegro. Ich bin mir sicher, dass ich diese Gegenden nicht das letzte Mal besucht habe …
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