Ein Gastbeitrag von Sybille Fuchs, Frankfurt a.M.
Im Juni ging es nun endlich mal wieder in den wilden Osten, nach Armenien. Meine Freundin Silvia hat sich dort niedergelassen und mich eingeladen, worauf ich mein altes Russischreisewörterbuch aus den Umzugskisten rausgesucht habe und sehr neugierig war. Seit den 90er Jahren war ich immer wieder im Osten, entlang der Seidenstraße nach Usbekistan, in den Steppen der Mongolei, natürlich am Baikalsee mit der Transsib unterwegs oder zuletzt in der Ukraine auf den Spuren der Vergangenheit. Nach dem zweiten Ukraineaufenthalt war ich aber einfach zu traurig über die klaffende Soziallage und stagnierende Zuversicht, so dass ich lieber Vulkanlandschaften erkundete, als mich den zurückgebliebenen Brachen der Sowjetzeit auszuliefern. Nun war ich gespannt, was mich in Armenien erwarten und berühren würde.
Postindustrielle Transformation?
Als die Sowjets in den 90er Jahren aus Armenien abgezogen sind, haben sie die Industrie mitgenommen, viele Fabriken stehen leer, viele Arbeiter haben ihre Arbeit verloren. Man sieht keine rauchenden, eklig stinkenden Industrieanlagen wie in den Weiten Sibiriens, sondern leere Fabrikanlagen. Die Vulkanerde ist fruchtbar, die Armenier haben Respekt vor ihrer Erde, ihrem Land, schätzen das frische Obst und Gemüse, das man an jeder Straßenecke kaufen kann.
Viele Fragen und Visionen kamen auf:
- Wäre eine Transformation von der Industrie zum Agrarzweig und zu einer nachhaltigen Subsistenzwirtschaft möglich, in der jeder Zeit und Möglichkeiten hat, sich selbst zu versorgen und den Überschuss auf dem Markt oder über Genossenschaften zu verkaufen?
- Meine Freunde aus der deutschen Transformationsbewegung wären begeistert über die Imker, die man hier überall sieht, über das Fruchtleder und das selbst eingemachte Gemüse. Vielleicht sollten wir sowohl Werner, unseren erfahrenen deutschen Ziegenkäser, in den Norden in den Arpi Nationalpark schicken, um dort zu zeigen, wie man Ziegenkäse mit Steppenkräutern herstellt, aber auch junge Stadtgärtner, die bei den Armeniern in Sachen Selbstversorgung in die Lehre gehen.
Portraitstudie: Alte Männer oder berührende Erinnerungen
Mein Opa hatte tiefe Falten, eine sonnengegerbte Haut, dicke, große Hände mit Schwielen und nur vier Fingern an der einen Hand. Einen Finger hat er im Krieg in Russland verloren, dafür bekam er von den russischen Bauern Brot und einen Wintermantel geschenkt, die ihm das Leben retteten und ihn heil nach Hause zu seinen schwäbischen Weinbergen und badischen Kirschbäumen brachten. Das Leben und Wetter hatte seine Spuren hinterlassen. Und er hatte so eine Ruhe und konnte einen anlächeln. Er war alt und das Alter stand ihm gut. Doch jetzt habe ich das Gefühl, solche Männer sind bei uns mit meinem Opa ausgestorben. Hier hab ich sie wieder entdeckt. Zuerst hab ich versucht, sie unbemerkt zu fotografieren. Doch das gelang nicht und sie haben sich so gefreut, fotografiert zu werden. Dabei sind diese herrlichen Bilder entstanden.
Wahrscheinlich werden viele westliche Reisende hier Erinnerungen an den deutschen Alltag aus ihrer Kindheit finden, die sie berühren: ihr erstes Auto, an dem hier immer noch herumgebastelt wird, frische Kirschen gereift am Baum, ....
Die Weite
Ich dachte nicht, hier saftige, grüne, sanfte Hügellandschaften, besiedelt mit Schafen und Pferden und Kühen, zu finden, wie in der Mongolei. Oder die Spuren erkalteter Lavaflüsse zu entdecken,
wie in Island. Meine bisher liebsten Landschaften: der Himmel ist nirgendwo weiter und erhabener, man hat einfach so viel Luft. Und die Erde ist so weich, weit und wohlwollend. Auch wenn das
nächste Gewitter im Anzug zu sein scheint, fühlt man sich ruhig und wohl.
(Okay wir hätten bei Irina und ihren vier Hunden Unterschlupf und Aprikosenschnaps gefunden oder Alex, unser Reiseführer, hätte den Weg nach Gyumri auch im Regen gefunden.)
((((Was gegen Armenien spricht: ich habe hier bestimmt drei Kilo zugenommen, weil das Essen zu lecker war, während ich in Island fünf Kilo abgenommen habe, weil es mir einfach zu teuer war, oder Uwe in der Mongolei fünf Kilo abgenommen hat, weil das Hammelfleisch für uns doch zu streng war. ))))
HINWEIS: Was ich irgendwie nicht fotografiert habe, da es genauso im Westen vorzufinden ist, aber dennoch wichtig, der Vollständigkeit halber zu erwähnen:
- das am besten ausgebaute Mobilfunknetz zwischen Klöstern und Schlaglöchern
- die hohe Friseurdichte in Korrelation mit sehr perfekt gefärbten Haaren in allen Braunnuancen
- Tapasbars fast wie in Barcelona ...
Werde ich wiederkommen? Ja, am liebsten mit der ganzen Familie, meiner Familie, aber auch meiner ganzen Reisefamilie aus alten Tagen! Und zwar, weil die Menschen einfach bezaubernd sind, sich freuen, mit Fremden Maulbeeren vom Baum zu pflücken oder einem in der Tapasbar das ganze Leben erzählen. Und weil es mit Silvia nie langweilig wird!
Lieben Dank!
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Elke (Samstag, 02 Juli 2016 20:18)
So ein schöner Bericht.
Die Weite in den Fotos und die Farben der Landschaft.
Ich freue mich auf weitere Eindrücke von Deinen Reisen.